Einführung
Kunstkritiker haben viele Rezensionen über die chaotische Natur der diesjährigen documenta 14 geschrieben. Aber man kann sagen, was man will, sie illustrierte sicherlich die planetarische Tragweite der zeitgenössischen Kunst durch die enorme Spannweite von Werken in Athen und Kassel und durch den disparaten Kommentar einer gleichen Anzahl von Künstlern, Kuratoren, Historikern, die sie im Daybook präsentieren. Allein in Kassel und in fast ebenso vielen in Athen verteilte sich die Ausstellung auf jeweils rund 20 Ausstellungsorte und bot viele Höhepunkte, die den Besucher nicht unbeeindruckt ließen. Die schiere Vielfalt sorgte dafür, dass sich alle auf wenigstens einige der gezeigten Werke einstimmen konnten. Und die Rekordzahlen von Besuchern haben das bestätigt. Eine große Anzahl von Performances von Künstlerinnen ergänzten Überlegungen zur Gleichstellung der Geschlechter und zu dem was Menschen ausmacht und in verschiedenen Teilen der Welt umtreibt. Marta Minujins „Das Parthenon der Bücher“ auf der rechten Seite war zur Hälfte mit gespendeten Büchern gefüllt, die irgendwann in verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt verboten waren.
Die Show startete am 8. April in Athen und schloss am 17. September 2017 in Kassel.
Hier zeigen wir nur Werke von vier Künstlern aus drei Kontinenten, die alle irgendwie mit einem Kernanliegen der Show verbunden sind, nämlich dass das grässliche Gesicht der Unterdrückung Menschen auf der ganzen Welt unermessliches Leid gebracht hat, aber auch dass sich Fremde treffen und dass wir als Menschen kooperieren können, um voneinander über die Kontinente und Meere hinweg zu lernen. Wir offerieren hier die Kommentare der Kuratoren aus dem documenta 14 Daybook. Genießen Sie unsere kleine Auswahl und entdecken Sie mehr auf den vielen künstlerischen Webseiten, auf denen die documenta 14 weiterlebt, wenn Sie sie verpasst haben sollten. Alle Photos sind von CE Nauen.
Disso – Concertation (2016) – Installation with Paintings and Sound
Rückblende auf ein Treffen mit El Hadji Sy in seinem Atelier in Dakar in den frühen 1990er Jahren: Ich habe Mühe, seine Bilder einzeln zu fotografieren. Sy dirigiert meinen Blick, sodass in jeder Aufnahme eine überschüssige Zeichnung, eine weitere Arbeit auftaucht – explizit über dem größeren Gemälde positioniert, auf das ich es eigentlich abgesehen habe. Dazu die Person des Künstlers selbst – eine menschliche Gestalt, die sich bewegt und dabei die räumliche Achse der verschiedenen statischen Elemente bricht. So entstehen blinde Flecke, aus denen inkongruente Signale aufblitzen – Signale, die ihrerseits zwischen unterschiedlichen Kunstgeschichten pendeln.
Als Maler, Kurator und Aktivist, der seiner Heimat Senegal stets treu geblieben ist, steht der 1954 in Dakar geborene Sy für eine Position, die von jeder isolationistischen Genealogie frei ist. Seine erste Einzelausstellung im Ausland fand 1981 in Chicago in Paul Waggoners unkonventionellen Kunsträumen statt. Zu dieser Zeit stand Sys Schaffen in Konfrontation mit dem vom senghorschen kulturellen Regime der 1970er Jahre proklamierten normativen Genre der Malerei. Zehn Jahre lang bestand er darauf, mit seinen Füßen zu malen. Gleichzeitig gründete er mehrere Kunstkollektive (Laboratoire Agit’Art, Tenq und Huit Facettes Interaction) und besetzte Gebäude, die von ausländischen Mächten – französischen Kolonialisten und chinesischen Kommunisten – errichtet worden waren.
Bereits 1988 gab Sy die erste kunstkritische Anthologie zur zeitgenössischen Kunst Senegals heraus und stellte für ein deutsches Museum eine Sammlung mit neuen Arbeiten seiner Künstlerkolleg_innen zusammen. Seine jüngste Retrospektive an derselben Institution (El Hadji Sy: Painting, Performance, Politics, Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main, 2015) demonstrierte nicht nur die Bandbreite seiner Praxis, sondern auch seine Wahrnehmung der Herausforderungen im Zusammenhang mit ethnografischen Sammlungen. So bezeichnet der Künstler diese abgesonderten Artefakte etwa als „Fallstricke des Gewissens“ und spricht von dem Schrecken, der von diesen Objekten ausgeht – Objekten, die die ethische Haltung der Betrachter_innen infrage stellen und eine semantische Aufrüstung erforderlich machen, die in der Lage ist, die Grenzen des anthropologischen Diskurses aufzubrechen.
Nach wie vor steht Sys widerspenstige Haltung für ein ästhetisches Ringen am agonistischen Scheideweg zwischen Engagement in der Gemeinschaft und einsamer Selbstbescheidung. „Wie sozialisieren wir die Produktion des Geistes?“, fragt der Künstler, dessen aktuelle Konzeptarbeiten in Dakar großformatige choreografische Gemälde mit Radiosendungen verbinden, die er als Junge hörte. Diese Sendungen richteten sich an Bauern und Fischer und setzten sich mit drängenden Fragen der Entwicklungspolitik in einem postkolonialen Senegal auseinander. Sy extrahiert den Radiojingle, der – wie die flüchtige Spur eines Dufts – einen spezifischen Augenblick in Erinnerung ruft. Diese gestische Erneuerung verknüpft das Ikonische mit dem Akustischen, das Synästhetische mit dem Politischen, ruft überlagerte Erinnerungen wach und verdichtet das performative Wissen aus der Vergangenheit mit ungelösten Problemen der gegenwärtigen Lebenswelt.
— Clémentine Deliss
Posted in Public Exhibition
Excerpt from the documenta 14: Daybook
„Die Fischer“ (Les pêcheurs), Acryl auf Leinwand mit Seilen und anderen gemischten Medien, 2.1 x 3.5 m.
El Hadji Sy – Der Ertrunkene (Le noyé) aus dem Zyklus Disso-Concertation, Acryl auf Jute
Mit Masken aus dem Zyklus „Königreich in den Tiefen des Meeres“ („Untersea Kingdom”)
Beau Dicks Name bedeutet in der Kwakw’ala-Sprache „großer, mächtiger Wal“. Seine Schnitzarbeiten stellen häufig Dzunuk’wa dar, die „Wilde aus den Wäldern“, sowie ihr männliches Pendant Bakwas. Diese beiden übernatürlichen Gestalten beherrschen die Kosmologie der Kwakwaka ʹwakw und dementsprechend auch die Kunst von Beau Dick. Bakwas ist ein Räuber der Seelen. Er ködert seine Opfer mit vergifteter Nahrung – Kröten, Schlangen, Echsen und Maden. Wer seine Gaben verspeist, wird selbst zum Bakwas und bleibt für immer im Haus der Geister gefangen. Dzunuk ʹwa ist Kannibalin. Sie trampelt durch die Wälder, schnappt sich ungehorsame Kinder und steckt sie in ihren Korb aus Lebensbaumzweigen, um sie später zu fressen. Ihr riesiges Gesicht ist schwarz wie vom Feuer versengt, und ihre roten Lippen sind stets geschürzt, als riefe sie „HUU! HUU!“
Dick schnitzt nicht einfach Masken, sondern Lebewesen mit einer großen Bedeutung außerhalb des begrenzten Bereichs zeitgenössischer Kunst. Er untergräbt beharrlich ihren Status als Kunstware. 2012 entfernte er vierzig Atlakim-Wald-Masken von den Wänden seiner Galerie und brachte sie zurück zu seiner Dorfgemeinschaft in Alert Bay. Dort ließ man sie ein letztes Mal tanzen, bevor sie feierlich verbrannt wurden. Die Zerstörung schließt eine Wiedergeburt ein, da sie die lebenserhaltende Verantwortung mit sich bringt, eine neue Serie von Masken zu schnitzen.
Beau Dick – Masken aus der Serie „Königreich in den Tiefen des Meeres“ („Undersea Kingdom“)
In seiner ererbten Position als Chief ist der 1955 geborene Künstler innerhalb seiner Gemeinschaft äußerst aktiv. Kaum hat man mit der Fähre angelegt, zeigt sich seine Handschrift in geschnitzten Totempfählen hoch oben auf dem Hügel bis zu Gedenkpfählen am Ufer der Bucht. Seit einiger Zeit gelingt es ihm, Menschen außerhalb seiner Dorfgemeinschaft zu mobilisieren. Im Februar 2013 marschierte er auf Anregung der Aktivistengruppe Idle No More und seiner Töchter Linnea und Geraldine von Quatsino in Richtung Süden nach Victoria (British Columbia), wo er vor etwa 3.000 Anhänger_innen auf den Stufen des regionalen Legislative Assembly eine „Nunmgala“ genannte Kupferplatte zerbrach. 2014 versammelte er eine noch größere Zahl von Unterstützer_innen am Parliament Hill in Ottawa und zerbrach auch dort eine Kupferplatte. Als Schöpfer von Ungeheuern entlarvt er nun auch Ungeheuer anderer Art. Denn das rituelle Zerbrechen der Kupferplatten vor den beiden Sitzen der Macht ist ein Aufruf zum Widerstand gegen Kolonialismus und Kapitalismus: „Indem wir diese Platte brechen, wenden wir uns gegen die Tyrannei und Unterdrückung eines Staates, der die Menschenrechte missachtet und sich für den allmächtigen Dollar von der Natur abwendet. Wir handeln im Einklang mit unseren Gesetzen.“
—Candice Hopkins
Gepostet in Public Exhibition
Exzerpt vom the documenta 14: Daybook
Beau Dick – weitere Masken aus der Serie „Königreich in den Tiefen des Meeres“ („Undersea Kingdom“)
Beau Dick ist von uns gegangen ohne das Ende der documenta 14 zu erleben, wo seine Masken aber weiter einen tiefen Eindruck auf die vielen Besucher ausübten. Wir behalten Beau Dick nicht zuletzt deshalb in besonders gutem Andenken, weil er uns 2014 auf den nicht besetzten Gebieten der First Nations in British Columbia zum International Roundtable am Peter Wall Institute for Advanced Studies an der University of British Columbia, Vancouver, willkommen geheißen hat. Er teilte großzügig mit uns Einsichten aus seinem politischen Kampf gegen Unterdrückung und für Versöhnung und zeigte uns eine Auswahl seiner beeindruckenden Kunstwerke, die uns zutiefst mit seiner Menschlichkeit berührten.
Beau Dick passed away without seeing the end of documenta 14 where his masks made deep impressions on the many visitors. We keep fond memories of Beau Dick, not least since he welcomed us in 2014 on the unceeded territories of the First Nations in British Columbia for an International Roundtable at the Peter Wall Institute for Advanced Studies at the University of British Columbia, Vancouver. He generously shared with us insights from his political struggle against oppression and for reconciliation and showed us a selection of his impressive art works touching us profoundly with his humanity.
Mit Resten von Plastik- und Holzbooten, die bei dem Versuch, nach Europa zu kommen, auf See verloren wurden und jetzt zu Tonkörper geworden sind
2012 begann Guillermo Galindo mit der Arbeit an Border Cantos, einem Gemeinschaftsprojekt mit Richard Misrach. Das Projekt hat ihn an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten entlanggeführt, in das am meisten militarisierte Gebiet Nordamerikas. Hier begann er, weggeworfene Gegenstände zu sammeln. Zuerst kleine Dinge: einen verwitterten Plastikkamm, leere Wasserflaschen, brüchige Tierknochen. Später kamen größere Objekte hinzu: verbogenes Wellblech, Ketten, Reifen und schließlich reihenweise Abbilder in der Kleidung von Migrant_innen, die, aufgehängt in einem aufgegebenen Tunnel, in der Hitze der Wüstensonne vor sich hin rotteten.
Aus kleinen und großen weggeworfenen Objekten entstanden in der Folge Instrumente, die in die Welt hinaustönen können. Für den 1960 in Mexiko geborenen Künstler wird mit diesen Klängen etwas von der Geschichte und möglichen Zukunft des Gegenstands hörbar. In einer seiner Klangskulpturen hängen ein Handschuh und ein Stiefel an einem komplizierten Flaschenzug und erzeugen über einer abgenutzten Gummireifentrommel ein eigentümliches Klacken oder Schnalzen. In einer anderen Skulptur verursachen die leeren, von einer aus Metallschrott zusammengeschweißten Piñata herabhängenden Patronenhülsen bei jedem Schlag ein helles Klimpern. Diese Materialien erzählen – als Relikte – von ihrer Vergangenheit, aber ebenso vom möglichen späteren Leben der Menschen, denen sie einmal gehörten.
In Athen und Kassel komponiert Galindo neue Partituren, Oden für Grenzgänger_innen. Fundstücke aus beiden Städten bilden das Ausgangsmaterial für neue Instrumente. Aus dem Bruchstück eines Bootes kann unter Galindos Händen ein Saiteninstrument werden, aus dem Rest eines Leitungsrohrs eine Flöte, aus einem Bett in einer behelfsmäßigen Flüchtlingsunterkunft in Kassel eine Trommel.
In Mesoamerika gelten Musikinstrumente traditionell als Talismane für den Übergang von einer Welt zur anderen. „Aus Sicht mesoamerikanischer Kulturen“, erklärt Galindo, „sind persönliche Gegenstände und die Klänge, die sie erzeugen, Teil unserer Lebensreise auf diesem Planeten“. Seine eigenen Instrumente sind ebensolche Talismane, jedoch für eine andere Reise: nicht von einer Welt zur anderen, sondern von einem Staat in den anderen. Die Musik, die sie erzeugen, haucht den zurückgelassenen Dingen Leben ein. Das lateinische reliquiae meint „Überbleibsel“, und zwar meist solche, die kultisch verehrt werden. „Wenn ich Instrumente baue“, sagt Galindo, „strebe ich nicht nach dem vollkommenen oder schönsten Klang. Die Materialien sollen in ihren eigenen Stimmen singen können“ – eine ganz eigene Art kultischer Verehrung.
—Candice Hopkins
Gepostet in Public Exhibition
Exzerpt vom documenta 14: Daybook
Guillermo Galindo – Fluchtzieleuropahavarieschallkörper (2017)
Reste von Glasfiber- und Holzbooten, Rettungsring und Paddel von Lesbos (Griechenland), Ziegenleder, Metallrohre, Gummiband, Metallschrott, Cembalosaiten, Klaviersaiten, Metall
– documenta Halle, Kassel
mit seiner gigantischen Wandmalerei “Murriland!”
TERRAISTS. Gordon Hookey – 1961 in Cloncurry, Australien, als Angehöriger des Waanyi-Volkes geboren und heute in Brisbane lebend – malt Worte auf Bilder. YOU CAN’T HAVE OUR SPIRITUALITY WITHOUT OUR POLITICAL REALITY. Im Zusammenwirken inszenieren Worte und Bilder die Lebensrealität der Aborigines in einem gesellschaftlichen und politischen System, das sich direkt auf die Unterdrückung und Ausbeutung im Kolonialismus rückführen lässt. COLONIALHISM. Hookey verdreht englische Wörter. Er ändert ihre Bedeutung, eignet sich eine Sprache an, die nicht seine eigene und doch die einzige ist, die er spricht. SORRY! / FUCK SORRY! / SORRY CAN GO GIT’T FUCKED! / GIVE’S THE REALLY, LUBBLY, DEADLY, BIG, SOLID, GOLDEN SORRY / POOR FELLA U.
Gordon Hookey – Teilsicht des Gemäldes „MURRILAND!“ (2016), Öl auf Leinwand, 2 x 10 m
Die Geschichte ist uns in gesprochenen und geschriebenen Worten überliefert. Sie kann eine Wunde auf unserem Leib oder ein Schimmer der Hoffnung in unseren Seelen sein. Hookey malt Geschichte in dem Moment, in dem sie gemacht wird – mit Farbe, Form und Erzählung. Sein Interesse an der Historienmalerei reifte im Zuge einer Auftragsarbeit für die Forschungsplattform Frontier Imaginaries, die ihn in Kontakt mit dem kongolesischen Maler Tshibumba Kanda Matulu (auch er ist auf der documenta 14 vertreten) brachte. Mitte der 1970er Jahre stellte Matulu die Geschichte seines eigenen, tief vom Trauma der Kolonisation zerrissenen und von den Gewalten der Militarisierung und des Neoimperialismus gezeichneten Landes in einer Serie von 101 Gemälden dar. Matulus Arbeit brachte Hookey dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was alles zu einer Bildergeschichte seiner Heimat Queensland gehören könnte. Das Ergebnis ist die fortlaufende Malerei-Serie „MURRILAND!“.
Im Mittelpunkt der Serie steht die Entstehungsgeschichte des heute als Queensland bekannten Teils von Australien. Das Projekt wird auf der documenta 14 gezeigt und umfasst eine Serie monumentaler Gemälde in Kassel sowie eine Wandmalerei im öffentlichen Raum in Athen. Hookey stellt die über viele Generationen mündlich weitergegebenen Traditionen der Aborigines neben die koloniale Schöpfung Australiens – die „Erforschung“ und Besiedlung des Landes, die Auslöschung indigener Kulturen und die Durchsetzung einer Nationalerzählung, in der Geschichte zur kolonialen Geschichtsphilosophie wird.
In der Deutung dieser Bilder erschließt sich die Komplexität von Hookeys Vorhaben. Seine Umwandlung geschriebener, gesprochener und gelebter Wörter in ein Bild, das die gegensätzlichen Erzählungen nationaler und kultureller Identität versammelt, lässt am Ende die Geschichte in sich zusammenfallen. Die Darstellung eines Landes, die Matulu geschaffen hat, ist nun in einem singulären Geschichtsbild eingefangen. Im Zuge dessen überführt die Arbeit auch den multinarrativen Raum in einen linearen Raum und macht aus Brüchen Geschlossenheit, aus Subversion Affirmation, aus Mündlichkeit statische Chronik. Hookeys Malerei klingt so kraftvoll und lang wie seine Wörter, und „MURRILAND!“ spricht Bände.
—Hendrik Folkerts
Gepostet in Public Exhibition
Exzerpt vom documenta 14: Daybook