Vom 30. September bis zum 4. Oktober 2024 fand in und um das Europäische Parlament die Ozeanwoche statt, die von „blauen NGOs“ in Brüssel unter der Leitung von Seas At Risk, BirdLife Europe and Central Asia, ClientEarth, Oceana, Surfrider Foundation Europe und WWF organisiert wurde. Mit Unterstützung von rund 140 Organisationen, darunter Mundus maris, stellten sie das neue „Blaue Manifest“ für ein gesundes und produktives Meer vor. Darin werden 50 konkrete sektorübergreifende und sektorale politische Forderungen formuliert, die einen klaren Aktionsplan für ein gesundes Meer im Jahr 2030 darstellen. Die Veranstaltung „Fischerei neu denken“, die am 1. Oktober in einem großen Zelt vor dem Parlament stattfand, war eine ideale Gelegenheit, die Veränderungen zu beleuchten, die dringend notwendig sind, um die Ressourcen des Meeres zu regenerieren und eine florierende Fischerei mit geringen Auswirkungen zu ermöglichen.
Das große Zelt vor dem Europäischen Parlament auf der Esplanade Solidarność war bis auf den letzten Platz besetzt und viele Teilnehmer fanden keinen Sitzplatz mehr. Sie drängten sich im Zelt, tauschten sich aus und versuchten, einen Blick auf die Ausstellungswürfel mit drei exemplarischen Fällen von handwerklichen Fischern in Dänemark, Irland und Spanien zu werfen.
Nach einem Ordnungsruf begann die Veranstaltung mit Live-Streichermusik, um die Aufmerksamkeit aller zu wecken und die Stimmung zu steigern. Zum Einstieg in die Veranstaltung fragte Inka Cresswell, Ozeanografin und Filmemacherin aus dem Vereinigten Königreich: „Wie kann die Produktion von Meeresfrüchten die Regeneration der Meere unterstützen – und umgekehrt“? Ihre eigenen Erfahrungen aus Tauchgängen und Kooperationen rund um den Globus, die sie mit beeindruckenden Bildern illustrierte, lieferten erste Antworten und regten zu weiteren Überlegungen an. Der weitere Verlauf des Programms war in drei Podiumsdiskussionen unterteilt, die von Musik und Videomaterial unterbrochen und von Tobias Troll von Seas At Risk und Gina Lovett von Patagonia moderiert wurden. Das erste Podiumsgespräch konzentrierte sich auf das Thema „Die Zukunft der Fischerei“. Das Photo zeigt die Diskussionsteilnehmer, beginnend von rechts: Isabella Lövin (MdEP), Didier Gascuel (Institut Agro Rennes), Brian O’Riordan (Low Impact Fishers of Europe, LIFE), Silvia Bartolini (Europäische Kommission) und den Moderator Tobias Troll. Didier Gascuel sprach über die so genannte Pêche-écologie, d.h. eine Fischerei, die darauf achtet, die Auswirkungen ihrer Fänge so gering wie möglich zu halten, sowohl in Bezug auf die Mengen als auch auf die Art und Weise, wie sie die Fischarten so selektiv wie möglich entnehmen.
Die Gemeinsame Fischereipolitik schreibt eine größere Biomasse vor, als für den höchstmöglichen Dauerertrag (MSY) erforderlich ist. Da jedoch große Fische kleinere fressen und es auch Wechselwirkungen mit anderen Arten gibt, dürfen Spitzenprädatoren zwar im Verhältnis zum MSY-Konzept gefangen werden, aber ihre Beutetiere dürfen natürlich nicht so stark befischt werden. Didier plädierte daher nachdrücklich für einen wesentlich stärker auf das Vorsorgeprinzip ausgerichteten Ansatz bei der Befischung. Er betonte auch, dass die Meeresressourcen ein Allgemeingut sind, das so genutzt werden muss, dass die gesamte Gesellschaft davon profitiert, nicht nur einige wenige Privilegierte. Die Europaabgeordnete Isabella Lövin erinnerte kurz an ihre aktive Unterstützung für die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) im letzten Zyklus. Sie bedauerte, dass die Bestimmungen der GFP von den Mitgliedstaaten nicht wie gefordert umgesetzt würden. War es sinnvoll, gefährdete Bestände zu erhalten und sogar zu regenerieren? Sie argumentierte, dass dies möglich sei, sofern der Wille und die Einsicht in den größeren Nutzen im Vergleich zu den derzeitigen Rückgängen vorhanden seien. Dies sei umso wichtiger, als der Klimawandel zu einem massiven Temperaturanstieg z.B. in den Gewässern vor der schwedischen Küste, aber auch in anderen Teilen der Ostsee führe. Die Meereslebewesen könnten die Doppelbelastung durch Überfischung und hohe Temperaturen nicht verkraften.
Sie plädierte daher für einen ‚blauen Übergang‘, um den Reichtum der marinen Ökosysteme wiederherzustellen. Um die Fairness bei der Zuteilung von Fangquoten zu erhöhen, erinnerte Isabella Lövin die Zuhörer an Art. 17 der GFP, der den Mitgliedstaaten das Vorrecht einräumt, zu entscheiden, wer die Fangquoten erhält: Fischer mit hohen oder niedrigen Umweltauswirkungen. Der blaue Übergang muss auch ein gerechter Übergang sein, der Chancen für handwerkliche Fischer schafft. Das war der perfekte Moment für Brian O’Riordan von LIFE, um die formulierten Erwartungen in den Kontext zu stellen, in dem die Mitglieder seines Verbandes leben. Er stellte fest, dass sich vieles ändern müsse, wenn Politik und Wissenschaft zumindest die verbliebenen Ressourcen erhalten oder sogar die verlorene Produktivität wiederherstellen wollten. Um Pläne für die Zukunft zu entwerfen, müsse man die Vergangenheit kennen und analysieren. Um die Fischerei zukunftssicher zu machen, müssten die Quoten der industriellen Fischerei, insbesondere der schädlichen Grundschleppnetzfischerei, auf Fanggeräte mit geringerer Auswirkung umgeschichtet und Erholungsgebiete ausgewiesen werden. Er forderte die Zuhörer auf, sich neben der Lektüre des neuen Blauen Manifests auch mit dem Manifest der handwerklichen Fischer zu befassen. Silvia Bartolini von der GD Umwelt betonte die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen der Umweltpolitik, z. B. dem Aktionsplan zum Schutz und zur Wiederherstellung der Meeresökosysteme im Hinblick auf eine nachhaltige Nutzung im Verbund mit der GFP einerseits und den EU-Mitgliedstaaten andererseits.
Der Aktionsplan trägt dazu bei, die EU-Strategie zur Erhaltung der biologischen Vielfalt bis 2030 und ihre Verpflichtung zu erfüllen, 30 % unserer Meere rechtlich und tatsächlich wirksam zu schützen. Ein Drittel davon soll im Einklang mit den vereinbarten internationalen Verpflichtungen streng geschützt werden. Sie wies darauf hin, dass Schweden und Griechenland mit ihrer Ankündigung, die Grundschleppnetzfischerei auslaufen zu lassen, mit gutem Beispiel vorangegangen seien.
In der anschließenden Debatte mahnte Isabel Lövin, man dürfe nicht zulassen, dass einige wenige starke Wirtschaftsakteure in einem letztlich kleinen Wirtschaftssektor die Meere mangels strenger Aufsicht leerfischen. Auch müsse man verhindern, dass der Hering, ein bevorzugter Speisefisch in Schweden, fast vollständig zu Fischmehl für den norwegischen Lachs verkommt.
An dieser Stelle empfahl Brian O’Riodan, auf Investoren und Hedge-Fonds-Manager im Auge zu behalten, die sich unter dem Deckmantel von Schuldentauschgeschäften zum angeblichen Schutz der Umwelt in eine Reihe von Politikfeldern und Management-Maßnahmen etabliert hätten. Oder wie könnte das fortgesetzte Sozialdumping von Fischnahrung aus Niedriglohnländern gestoppt werden, solange die von den europäischen Verbrauchern bevorzugten Waren, nämlich Weißfisch, Thunfischkonserven, Garnelen und Lachsfilets, billig zu haben seien. Es wurde eindeutig mit zweierlei Maß gemessen, ohne Rücksicht auf menschenwürdige Lebensbedingungen und Entlohnung der handwerklichen Fischer in Europa. Wie Didier Gascuel am Ende dieses Beitrags erwähnte, besteht kein Zweifel an der Notwendigkeit von Veränderungen. Wir können unsere Fischerei nicht weiterhin als nachhaltig bezeichnen, wenn bestenfalls 30 % der Biomasse im Wasser sind, die für den höchstmöglichen Dauerertrag erforderlich wäre. Ganz zu schweigen von einem Vorsorgepuffer, der es den Ökosystemen ermöglicht, besser mit dem zusätzlichen Stress durch Klimawandel, Verschmutzung, Lebensraumzerstörung und andere Stressfaktoren umzugehen. Die Politik und die Zivilgesellschaft stehen also gleichermaßen vor der Aufgabe, aktiv zu werden und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Das zweite Expertengremium bestand aus (von rechts nach links) David Lange (Dänische Erzeugerorganisation für handwerkliche Fischer FSKPO), Jorid Hammersland (Ständige Vertretung Schwedens bei der EU) und Vera Coelho (Oceana Europa). Sie diskutierten über „Grundschleppnetzfischerei und MPA“.
Vera Coelho eröffnete die Diskussion mit dem Hinweis, dass es zwar eine gute Gesetzgebung gebe, aber in den EU-Mitgliedstaaten nur wenig politisches Interesse an deren Umsetzung bestehe, wenn dies zu Einschränkungen der bisherigen Aktivitäten führe. Jorid Hammersland teilte mit, dass die schwedische Regierung einen Gesetzentwurf eingebracht habe, um die Grundschleppnetzfischerei durch schwedische Schiffe zumindest in Meeresschutzgebieten einzuschränken. Die Regierung hofft, die Aufmerksamkeit auf das Bewirtschaftungsverfahren zur Wiederherstellung eines gesunden Bestandes zu lenken. David Lange räumte ein, dass es oft schwierig sei, die notwendigen Beschränkungen innerhalb des Sektors anzusprechen. Schließlich kennen sich die kleinen und großen Fischer untereinander und wissen, wie schwer es ist, die Tätigkeit einstellen oder sogar reduzieren, wenn große Investitionen getätigt werden und vielleicht Kredite zurückzuzahlen sind. Er wies jedoch auch darauf hin, dass die großen industriellen Schiffe Rentabilitätsprobleme hätten, während es den handwerklichen Fischern seiner Organisation relativ gut gehe, da sie für ihr hochwertiges Produkt in der Regel gute Preise erzielten. Er betonte, dass die Fischerei rund um den Öresund, wo die Schleppnetzfischerei aus Sicherheitsgründen verboten ist, ausgezeichnet sei.
Vera konnte also zusammenfassen, dass viele öffentliche Diskurse auf einer falschen Dichotomie beruhen, da es nicht darum geht, den derzeitigen Weg der weit verbreiteten Überfischung fortzusetzen. Die eigentliche Frage sei, wie man den Übergang zu gesunden und produktiven Fischgründen als Quelle von Nahrungsmitteln, Arbeitsplätzen und lebendigen Küstenwirtschaften schaffen könne. Das dritte Podiumsgespräch wurde von handwerklichen Fischern bestritten, die von ihren Erfahrungen berichteten, wie sie angesichts einer Politik, die überwiegend industrielle Betriebe begünstigt, immer wieder nach besseren Möglichkeiten suchen, sich ein menschenwürdiges Leben zu sichern.
„Make Fishing Fair“ war der Titel der Aussagen dieser Fischer, die auf dem Foto von links nach rechts zu sehen sind: Gwen Pennarun (Association ligneurs pointe de Bretagne, Frankreich), – Tobias Troll als Moderator – Muireann Kavanagh (Irland), und Isaac Moya Bofill (Empescat, Spanien). Hintergrund war der SAR/LIFE-Bericht „Fisheries for a new era“ über alternative Geschäftsmodelle in der handwerklichen Fischerei, die trotz aller Widrigkeiten funktionieren, darunter auch die von den Podiumsteilnehmern vorgestellten. In allen Beiträgen erfuhren die Zuhörer, auf welch unterschiedliche Weise die Regulierungen die Küstenfischer benachteiligen, die viel Kreativität und Hartnäckigkeit brauchen, um trotzdem über die Runden zu kommen.
Claire Nouvian von Bloom war es vorbehalten, in ihren abschließenden Bemerkungen die verschiedenen Argumente, Fakten und praktischen Erfahrungen in das Bild einer großen Kluft zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun, einzuordnen. Sie verwies auf die IPCC-Berichte und erinnerte die Zuhörer daran, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit 1972 mit dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome auf dem Tisch liegen.
Sie nahm kein Blatt vor den Mund, als sie der industriellen Fischereilobby und anderen Wirtschaftsvertretern Paroli bot, die Verwirrung stifteten, Lügen verbreiteten und eine Reihe zweifelhafter Praktiken anwendeten, um ihre kurzfristigen Gewinnziele auf Kosten aller anderen zu verfolgen. Sie appellierte an die Zuhörer, sich nicht beirren zu lassen und stattdessen die Stärken der Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, handwerklichen Fischern und allen, die sich für einen gesunden Ozean einsetzen, zu nutzen. Claire verlangte von den Politikern und gewählten Vertretern, dass sie angesichts der auf der Veranstaltung und schon viel früher vorgelegten Beweise aufhören sollten, auf die Lobbyisten zu hören. Stattdessen sollten sie das Gleichgewicht in Richtung eines echten Paktes für einen gesunden Ozean und eine gerechte Aufteilung der Erträge verschieben. In vielerlei Hinsicht war die Veranstaltung ein hervorragender Ausdruck dafür, wie der Geist des ökosystemorientierten Ansatzes in der Fischerei funktionieren könnte. Mit fairem Wissens- und Nutzenaustausch, mit der Beteiligung aller Interessengruppen und mit dem Bemühen, die Auswirkungen auf die Umwelt so gering wie möglich zu halten und gleichzeitig qualitativ hochwertige Meeresprodukte auf den Tisch zu bringen.
Text und Photos von Cornelia E Nauen, deutsche Übersetzung von Claudia Mense.