,,Imagine the (Un)imaginable“, so lautete das Motto des europäischen Regionaltreffens des 4. World Small-Scale Fisheries Congress (4. Weltkongress der handwerklichen Fischerei), das vom 12. bis 14. September 2022 in Malta stattfand. Drei konzentrierte Tage mit Vorträgen und Diskussionen auf der Suche nach Lösungen für die offene Krise der handwerklichen Fischerei in Europa. Der Kongress, der von der maltesischen Regierung ausgerichtet und von der globalen Forschungsplattform Too Big To Ignore unter der Leitung von Ratana Chuenpagdee organisiert wurde, zählte rund 120 Teilnehmer, die überwiegend vor Ort waren, aber auch online teilnehmen konnten. Die aus der Wissenschaft in die Politik gewechselte Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Alicia Bugeja Said eröffnete den Kongress.
Die beiden einleitenden Plenarsitzungen des Kongresses zum Thema ,,Imagining Blue Justice“ und ,,Gender Equity“ gaben den Grundtenor der dreitägigen Veranstaltung vor. Sie wurden beide von Milena Arias Schreiber von der Universität Göteborg und Katia Frangoudes von der Universität West-Bretagne geleitet. Die verschiedenen Beiträge der Podiumsdiskussionen machten deutlich, dass es noch viel zu tun gibt, um die in internationalen Abkommen und nationalen Gesetzen verankerten Menschenrechte und andere Rechte zu verwirklichen.
Der Eröffnungsvortrag von Svein Jentoft, emeritierter Professor an der Universität Tromsö, Norwegen, ging auf grundlegende historische Zusammenhänge des Rechtsverständnisses und der Kämpfe um die Durchsetzung von Gerechtigkeit ein.
Im Gegensatz dazu benannte Brian O’Riordan, Exekutivsekretär der Low Impact Fishers of Europe (LIFE), einer Dachorganisation für eine beträchtliche Anzahl nationaler und lokaler Fischerorganisationen, die aktuellen Ungerechtigkeiten, unter denen seine Mitglieder durch vorenthaltene Rechtsansprüche und verwehrten Zugang zu Fangquoten und Märkten leiden. Er war nicht überzeugt davon, dass ein großer Teil der auf europäischer und nationaler Ebene geltenden Rechtsvorschriften zweckmäßig ist. Vor allem werden sie von den nationalen Regierungen nicht angewandt. Er betonte die Notwendigkeit, die Bemühungen der Fischer und ihrer Unterstützer zu verstärken, um die Arbeits- und Einkommensbedingungen für Fischer mit geringen Umweltauswirkungen zu verbessern, damit es wieder leichter wird, junge Menschen in die alternden Reihen zu rekrutieren, denen die Umwelt und die Zukunft am Herzen liegen.
Erfreulicherweise war die Beteiligung von praktizierenden handwerklichen Fischern aus verschiedenen europäischen Ländern, darunter einige aus Schottland, Wales und anderen Teilen des Vereinigten Königreichs, für einen überwiegend akademischen Rahmen sehr hoch. Sie unterstützten die Präsentation von LIFE voll und ganz und scheuten sich während des gesamten Kongresses nicht, ihre Bedenken zu äußern.
Die Schilderungen des Gender-Panels brachten ans Licht, dass es auch bei den Führungsansätzen der Fischerinnen und Fischer Verbesserungsbedarf gibt. Bis in die Reihen der Organisationen der handwerklichen Fischerei hinein war die Gleichstellung der Geschlechter immer noch ein fernes Ziel und nicht die Normalität, auch wenn mehrere Fischerinnen ausdrücklich erklärten, dass ihre Führungskompetenz auch von Männern unterstützt wird. Es war besonders wohltuend, diesen Berichten über individuelle und kollektive Erfolge zu folgen, die keine Anzeichen von Selbstmitleid erkennen ließen, sondern vielmehr die Chancen mit beiden Händen ergriffen und Hindernisse mit Bravour überwunden haben. Dann war es an der Zeit, in kleineren Gruppen zu arbeiten.
Eine der parallelen Breakout-Sitzungen am Nachmittag wurde gemeinsam von Seas at Risk und Mundus maris organisiert. Im Internationalen Jahr der handwerklichen Fischerei und Aquakultur (IYAFA2022) luden wir Teilnehmer aller Fachrichtungen zu diesem moderierten Workshop ein. Wir wollten erkunden, wie wir uns gemeinsam die Zukunft der europäischen handwerklichen Fischerei im Kontext des Wiederaufbaus der Ökosysteme für und mit den Küstenfischern vorstellen können, um ein gutes Auskommen zu haben. Dabei sollte die nicht nachhaltige industrielle Fischerei, die auf fossilen Brennstoffen und Subventionen basiert, vorzugsweise zumindest teilweise durch eine schonende handwerkliche Fischerei ersetzt werden. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, sich über ihre positiven Erfahrungen und Beispiele in kleinen Diskussionsgruppen auszutauschen, um so Gespräche zu ermöglichen, die Anhaltspunkte für künftige Entwicklungen liefern könnten.
Brian O’Riordan (dritter von links im Bild) von der LIFE-Plattform hielt einen kurzen Einführungsvortrag, in dem er die wichtigsten Anliegen und Forderungen der europäischen handwerklichen Fischer zusammenfasste. Cornelia E. Nauen von Mundus maris forderte im Anschluss die Teilnehmer auf, sich in Dreiergruppen zusammenzusetzen, um ihre Geschichten über gute Beispiele zu sammeln, die zum Lernen anregen und zur Nachahmung und zum Upscaling ermutigen könnten. Das Prinzip der wertschätzenden Befragung besteht darin, dass eine Person eine gute Geschichte erzählt, die zweite die Geschichte schriftlich festhält und die dritte mit klärenden Fragen hilft, um sicherzustellen, dass die Geschichte auch für andere verständlich ist.
In der Sitzung gab es zwei Runden und einen Rollentausch am Ende der ersten Geschichte. Während der ganzen Zeit sorgten Hélène Buchholzer und Christine Adams von Seas at Risk dafür, dass alle Teilnehmer die benötigten Materialien im Raum bzw. online zur Verfügung hatten. Sie behielten auch die Zeit im Auge, und als der Moment gekommen war, die Geschichten im Plenum vorzutragen, sammelte Hélène die Schlüsselwörter, die die wichtigsten Faktoren für den Erfolg darstellten, und hängte sie für alle sichtbar an ein Flipchart. Einige davon wurden erwähnt. „Leidenschaftliche Menschen, die die Sache vorantreiben“ war vielleicht das wichtigste in der reichhaltigen Sammlung.
Viele Interessante Geschichten lieferten u. a. das Beispiel des Co-Managements in der Lyme Bay, eine laufende Maßnahme in Südengland, die Rettung von Walen und Delfinen in Schottland sowie der Küstenschutz durch das Haus der Fische (casa dei pesci) in Form von im Wasser versenkten Marmorstatuen in der Toskana, Italien. Über Fischereiorganisationen in Norwegen wurde berichtet, die eine aktive Rolle bei der Festlegung der nationalen und internationalen Politik und Praktiken übernehmen, das Co-Management in einer Wellhornschneckenfischerei im Vereinigten Königreich, oder den Schutz der Fischgründe vor Plastikverschmutzung durch das von den Fischern betriebene Amorgorama-Projekt in Griechenland und nicht zuletzt über ein partizipatives Renotierungsprojekt für Hummer in England und Irland.
José Pascual Fernandez, Universidad de La Laguna, Spanien, leitete gemeinsam mit Cristina Pita, Universität Aveiro, Portugal, eine weitere interessante Sitzung über Wertschöpfungsketten und Märkte, in der auch weitere gute Beispiele vorgestellt wurden. José hat außerdem im Vorfeld des Kongresses einen Gesamtüberblick über die handwerkliche Fischerei in Europa erstellt. Der Bericht ist auf der Webseite von Too Big To Ignore verfügbar.
Es gab keine Gelegenheit, diese Geschichten in einer zweiten Sitzung zu vertiefen, aber wir werden sicherlich mit diesen und anderen Fällen weiterarbeiten, um ein größeres Portfolio an dokumentierten Beispielen zu entwickeln, die sich als Grundlage für die Erprobung von Übergängen zu robusteren und nachhaltigeren Fischereien und für weitere Experimente eignen. Dies scheint ein vielversprechender Weg zu sein, um aus der Krise herauszukommen und die Fähigkeit zu entwickeln, Alternativen in die Praxis umzusetzen.
Es folgten weitere lange Plenarsitzungen und Break-out-Sitzungen. So eine Fülle von Informationen in nur drei Tagen! Die vielen Präsentationen waren sehr anspruchsvoll, so dass trotz des großen Enthusiasmus am Ende des Kongresses alle einigermaßen erschöpft waren, immer begleitet von der unermüdlichen Ratana Chuenpagdee, die die Beratungen wegen Covid online verfolgen musste.
Was nehmen wir aus diesen drei gemeinsamen Tagen auf Malta mit nach Hause? Zunächst einmal, dass das Forschungsinteresse an der handwerklichen Fischerei deutlich größer ist als noch vor zehn Jahren und dass die Ergebnisse ein klares Licht auf die Probleme und Möglichkeiten werfen, die Entwicklung einer tragfähigen Zukunft für die in diesem Teilsektor tätigen Menschen zu unterstützen. Dies trägt dazu bei, die dringend benötigte öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tatsache, dass sich die handwerklichen Fischer besser organisieren, um ihren Werten und Forderungen Ausdruck zu verleihen, ist an sich schon entscheidend und ein sehr ermutigendes Zeichen, das zu weiterer Förderung einlädt.
Zwei Schwachstellen müssen vorrangig angegangen werden, damit die Maßnahmen der handwerklichen Fischer mehr Wirkung entfalten können. Zum einen müssen praktische Schritte unternommen werden, um den Frauen die volle Anerkennung zukommen zu lassen und ihnen den Weg zu mehr gemeinsam getragener Führung zu ebnen. Dies wird dem Prozess frische Ideen und neuen Schwung verleihen. Die andere besteht darin, sich der klaren Notwendigkeit zu stellen, die Erholung der Ressourcen voranzutreiben (siehe die Studie von 2016 über den schlechten Zustand von 396 Ressourcenbeständen in europäischen Gewässern). Könnte der Widerstand gegen die Zusammenarbeit mit Naturschutzgruppen und -bewegungen überwunden werden, da es doch viele gemeinsame Ziele gibt? Eine Vorreiterrolle bei der Wiederherstellung von Meeres- und Küstenökosystemen wird den Rückgang der Ressourcen umkehren und den Beruf für junge Menschen wieder attraktiv machen, wie man an Orten wie Amorgo (Griechenland) sehen kann, wo dies bereits der Fall ist.
In diesem Zusammenhang könnte die Aufnahme eines Dialogs mit Grundschleppnetzfischern den Übergang erleichtern. Vor allem in Meeresschutzgebieten oder Küstenschutzzonen sollten sie aufgefordert werden, ihre schädlichen Praktiken einzustellen und zu schonenden Fischereimethoden überzugehen. Die Schleppnetzfischerei wird in Gesellschaften, die sich angesichts der Übernutzung der Ressourcen, des Klimawandels und der sozialen Ungerechtigkeit um ihre Zukunft sorgen, immer weniger akzeptiert. Zusätzlich verringern die hohen Treibstoffpreise die Wirtschaftlichkeit der Schleppnetzfischerei erheblich, selbst wenn sie durch weitere fragwürdige Subventionen gestützt wird. Kurzum, es ist ein Umdenken und ein praktischer Wandel erforderlich, und zwar bei den Regierungen, den Wirtschaftsakteuren und anderen Gruppen, die die vielfältigen Krisen als Motor für einen positiven Wandel nutzen wollen.
Die Plenarsitzungen fanden während des gesamten Kongresses an runden Tischen statt. Das hätte mehr Dialoge in kleinen Gruppen zu ausgewählten Themen ermöglicht, aber das Format blieb weitgehend auf Präsentationen beschränkt, Vertiefende Fragen beschränkten sich auf die kurzen Pausen. Dies ermöglichte zwar strukturiertere Präsentationen, schöpfte aber das Lernpotenzial des Kongresses durch intensivere Diskussionen nicht voll aus. Dennoch war es eine Erfahrung, die man nicht verpassen sollte. Weitere Informationen finden Sie auf der TBTI-Webseite.
Text und alle Fotos von CE Nauen. Deutsche Übersetzung von Claudia Mense.
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